"Bald Girls- Timelag" Juan Xu

 

Eine alleinerziehende Mutter geht eine Scheinehe mit einem guten Bekannten ein, damit ihr unehelicher Sohn „formal“ einen Vater bekommt und sie ihn beim Meldeamt offiziell registrieren kann. Dies ist keine literarische Erfindung oder ein Filmszenario, sondern eine wahre Begebenheit des 21. Jahrhunderts Chinas. Es ist die Geschichte von einer Künstlerin, eine der „Bald Girls“ Künstlerinnen, die an dieser „Single Moms“ Ausstellung teilnimmt.

 

Obwohl China schon seit 65 Jahren als „sozialistisches“ Land gilt, ist die 2.000 Jahre alte, konfuzianische Tradition bei vielen Menschen nach wie vor fest im Kopf verwurzelt. Nach konfuzianischen Prinzipien steht der Mann über der Frau. Diese Tradition ist seit tausenden von Jahren Kulturkonsens in China, auch bei den Frauen selbst. Ähnlich wie im antiken Griechenland gilt der Mann in China als Kulturträger, ist das Maß aller Dinge. Die Frau steht hingegen für das Unvollständige, das Unvollkommene. Auch heute noch.

 

Die Bewegung der Gleichberechtigung der Geschlechter der späten Qing-Dynastie und am Anfang der Republik, vor allem die von der Politik veranlasste kommunistische Ideologie der Gleichheit, schaffte in den letzten 60 Jahren zwar günstigere soziale Bedingungen für chinesische Frauen – auch im Vergleich zu westlichen Ländern. Da dies aber von oben nach unten verordnet und nicht etwa Konsequenz von Forderungen der Frauen selbst war, fehlt es an Fragen nach dem Konzept einer inneren Wandlung. Auf der kulturellen Ebene mangelt es auch an der Bildung einer subversiven Kraft innerhalb des Gender-Bewusstseins.

 

Erst in den letzten Jahrzehnten hat der Wirtschaftsaufschwung und die Öffnung-nach-Außen-Politik der Emanzipation der Frau einen hervorragenden Nährboden bereitet. Die Situation der Frau stellt sich allerdings sehr unterschiedlich dar: Auf der einen Seite gibt es in den großen Städten bereits eine Menge selbstbewusster, finanziell unabhängiger, emanzipierter Frauen mit höherer Bildung, die im Prozess der wirtschaftlichen Reform immer mehr Freiheit zur Selbstverwirklichung genießen – wie zum Beispiel Künstlerinnen und Unternehmerinnen. Auf der anderen Seite gehen gleichzeitig nicht wenige Frauen in der traditionellen Rolle der Frau im alten China auf: als Hausfrauen, Nebenfrauen oder Konkubinen. Diese Frauen sind passiv, abhängig und geben dabei sogar ihre Persönlichkeit auf. Diese Koexistenz von verschiedenen und komplexen Zuständen der Frauen als Phänomen der chinesischen Gesellschaft ist so eigenartig und so absurd wie in einem surealem Theaterstück.

 

“By that yardstick alone, the Saturday opening of "Bald Girls", a feminist art show in the 798 arts district of Beijing, was a tremendous success. Plainclothes officers rushed into the Iberia Center for Contemporary Art shortly before the afternoon opening and demanded the removal of two paintings by Lan Jiny, an artist based in Germany, according to the show’s organizer, Xu Juan.

 

Feminist art in China, a country where very few women dare say they are feminists for fear of social ostracism, is still a tiny phenomenon. But, in fact, the show on Saturday didn’t need the censorship to have an impact. The artist’s actions were dramatic enough. And what they said was: The world’s attention may be transfixed by a handful of female Chinese billionaires, but the true situation of the country’s 653 million women is parlous.”

 

So schrieb die “New York Times” am 07.03.2012 über die unkonventionelle Ausstellung der ersten feministischen Kunstgruppe in China, “Bald Girls”. Der Titel "Bald Girls" ist von dem berühmten absurden Theaterstück "Die kahle Sängerin" inspiriert worden, das der französische Schriftsteller Eugène Ionesco in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts schrieb. Die Aussprache der Worte von "Bald Girls" in der chinesischen Sprache hat zwei Bedeutungen, "Sängerin" oder „Kämpferin“. Diese Doppeldeutigkeit soll darauf hindeuten, dass "Feministische Kunst" gerade erst in China Einzug gehalten hat und sich ihren Platz noch erkämpfen muss. Die Künstlerinnen sehen sich in der zeitgenössischen Kunst als Vorkämpferinnen des Feminismus und fühlen sich verpflichtet, für die Aufklärung und das Bewusstwerden der modernen Frau einzutreten.

„Bald Girls“ repräsentiert das Konzept des Genders, nämlich die Reflektion soziokultureller Strukturen in Bezug auf die Geschlechterrollen. Es wendet sich gegen die Konventionen und gibt sich in der zeitgenössischen Kunst kämpferisch: Die „Bald Girls“ gehen in China mit anderen Frauen-Aktivistinnen auf die Straße und lenken die Aufmerksamkeit auf spezielle Frauenproblematiken.

 

Das Frauenmuseum Bonn eröffnet 2014 eine große interdisziplinäre Ausstellung „Single Moms“. Im umfangreichen historischen Teil der Ausstellung wird gezeigt, wie sich die Stellung alleinerziehender Mütter in der Geschichte verändert, sowohl im Mittelalter als auch vom 18.Jahrhundert bis heute.

 

Neben dem dokumentarischen Teil der Ausstellung begleiten vor allem zeitgenössische Künstlerinnen das Projekt. Auf Einladung des Frauenmuseum Bonn nimmt die Gruppe „Bald Girls“ an dieser Ausstellung teil. Im Kontrast zu den objektiven Fakten stellen die „Bald Girls“ Künstlerinnen mit ihren Werken persönliche Erfahrungen bzw. Eindrücke dar. Sie greifen feministische Aspekte auf und gehen auf die Ursachen der Diskriminierung von „Single Moms“ bzw. Frauen überhaupt in den chinesischen kulturellen Traditionen ein. Gleichzeitig kritisieren sie die aktuelle Gesellschaftspolitik in China. Gemeinsam mit deutschen und internationalen Künstlerinnen treten die „Bald Girls“ mit ihrer subversiven Kunst für eine Verbesserung der Rechte der Frauen bzw. Single Moms ein.

 

Die in Deutschland Lebende Künstlerin Jiny Lan ist der Auffassung, dass sich die Diskriminierung gegen das weibliche Wesen in China auf den Blutlinie-Gedanken der konfuzianischen Tradition zurückführen lässt. Die Blutlinie der eigenen Familie zu erhalten ist für das chinesische Volk von hohem, beinahe religiösem Wert. Nach der traditionellen chinesischen Ansicht wird die Blutlinie nur durch die männlichen Mitglieder der Familie fortgesetzt, da nur sie den Familiennamen weitertragen. Besonders nach der Einführung der Ein-Kind-Familienpolitik führt diese Einstellung zu selektiver Abtreibung und Mädchentötung nach der Geburt. Diese Handlungen sind die wesentliche Ursache für ein starkes Ungleichgewicht in der Geschlechterproportion des chinesischen Volks. Ausgehend von dieser Situation hat die Künstlerin Jiny Lan eine Reihe von Werken geschaffen, die nicht nur die fehlgeleiteten traditionellen Gedanken thematisieren, sondern auch einen konstruktiven Vorschlag zur Lösung des Problems bereitstellt.

 

Zu diesem Thema stellt sie drei Arbeiten aus. Das erste Werk ist eine Performance mit dem Titel „Wer sind Ihre Vorfahren?“ (《谁是你们的祖宗?》)Die männlichen Geschlechtsorgane auf einer riesigen selbstgemalten Aktdarstellung eines liegenden Konfuzius werden malerisch hin zu weiblichen Geschlechtsorganen verändert. Anschließend wird ein großes Rohr durch die Leinwand in das neue weibliche Geschlechtsorgan eingeführt. Aus dem Rohr rutschen dann 79 männliche Babysitter-Lern-Babypuppen, auf deren Köpfe die Namen der neunundsiebzig konfuzianischen "Blutlinienträger", also des jeweils Erstgeborenen einer neuen Generation, mit roter Farbe geschrieben sind. Auf deren Rücken wird die entsprechende Zahl der Generation vermerkt.

 

Diese Arbeit legt nahe, dass die Definitionen von „Vorfahre“ und „Nachkomme“, die durch männliche Mitglieder der Familie bestimmt werden, nach biologischer Sichtweise sehr unzuverlässig und diese ernst zu nehmen in der Tat absurd ist.

 

Werk 2: „Manchmal ist die Lösung das Problem“ (《适者生存》) Jiny Lan legt eine männliche Babysitter-Lern-Babypuppe aus Plastik und ein Mädchen-Babypuppe aus Seife in eine mit heißem Wasser gefüllte Kinderbadewanne. Das Mädchen-Baby wird sich mit der Zeit auflösen und verwandelt sich in Seifenlauge, während das Jungen-Baby einsam (aber sauber) in der Badewanne liegen bleibt.

 

Diese Arbeit nutzt die unterschiedlichen Eigenschaften der Materialien Plastik und Seife in Wasser um eine Gesellschaft zu beschreiben, in der männliche Mitglieder gegenüber den weiblichen in der Vermehrung deutlich bevorzugt werden. Es wird sicherlich immer weniger Frauen und immer mehr Männer geben. So lange sich dieser gesellschaftliche Gedanke nicht ändert, wird das Ungleichgewicht im Geschlechterverhältnis eine unvermeidliche soziale Realität bleiben.

 

Werk 3: "Ein bescheidener Vorschlag" (《匹妇之谏》: Ein historisches Kostüm hängt an einem Galgen. Unter ihm liegen Bambusmatten mit einer aufgemalten Landkarte von China. Auf dieser Chinakarte liegen 6.379 Würfel, auf deren Seiten jeweils dreimal das chinesische Wortzeichen für „Mama“ und das für „Papa“ stehen. Das chinesische Zeichen „谏“, welches eine Petition an den Kaiser beschreibt, ist auf das Kostüm genäht. Hinter diesem Zeichen ist ein Brief eingenäht.

 

In diesem Brief schlägt Jiny Lan vor, eine Rechtsvorschrift zu schaffen und spezielle Notare für die Nachnamenregistrierung in jeder Geburtsklinik einzusetzen, die für jedes Neugeborene auswürfeln, ob der väterliche oder der mütterliche Nachname verwendet wird. Nach den statistischen Angaben von 2012 gibt es in China insgesamt 6.379 Geburtskliniken und spezielle Fachabteilungen in den Allgemeinkrankenhäusern. Es ist das Ziel, diesen Brief und die Würfel massenhaft zu reproduzieren und an jede Geburtsklinik zu schicken, in denen jeden Tag Mädchen gezielt abgetrieben werden. Durch wiederholte Ausstellungen innerhalb und ausserhalb Chinas sollen Freiwillige gefunden werden, welche diese Aktion unterstützen, damit aus dem bescheidenen Vorschlag Realität werden kann.

 

Die junge Künstlerin Li Xinmo bringt ihre „Single Mom“ Erfahrungen ein, weil sie persönlich als „unmoralische“, alleinerziehende Frau sozial stark stigmatisiert worden ist. Tatsächlich bedeuten „Single Moms“ nach wie vor eine Schande für die Familie, auch wenn China 60 Jahre kommunistische Ideologie und darin die Gleichheit der Geschlechter propagiert hat. Die kuriosen uralten Sitten wie „Überprüfung der Bettlaken“ nach der Hochzeitsnacht (um sicherzustellen, ob die Braut eine Jungfrau ist) haben nach wie vor Konjunktur. Eine unverheiratete Frau mit einem Kind würde eine ständige Quelle für Gerüchte und Klatsch sein. Aber wenn man sich trotzdem für das Kind entscheidet, wird das Leben der Frau nach dem ersten Tag der Schwangerschaft für immer verändert: Das Kind bekommt keinen Rechtsstatus, z. B. keine Krankenversicherung, und kann keine öffentliche Schule besuchen.

 

Li Xinmo hat eine Reihe in China sehr umstrittener Arbeiten wie „Women“(《女人》 2011) und "Selbstporträt“(《自画像》2011) mit eigenem Menstruationsblut gemalt , sowie die außergewöhnlichen Werke „Doppelsicht“(《双重视界》2014) zusammengestellt um zu zeigen, wie sich Single Moms“ kulturell nicht akzeptiert und oft von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen.

 

Ihre Performance "Frau Buch"(《女书》) thematisiert chinesische Schriftzeichen, die sich gegen Frauen richten. Die chinesischen Schriftzeichen bestehen oft aus verschiedenen Teilen: In der Regel bestimmt der linke Teil den Sinn und der rechte die Aussprache. Li Xinmo hat in dieser Zeichenkonstruktion ein eigenes System entdeckt: Alle Schriftzeichen mit dem Teil „Frau“(“女”)sind entweder negativ oder abwertend besetzt, bis auf das eine Zeichen „gut“ "好“(Frau mit einem Sohn). Diese Wörter voller Diskriminierung als Träger der chinesischen Kultur beeinflussen ihrer Meinung nach die Vorurteile gegen Frauen bewusst und unterbewusst. Man sollte aufgrund der Diskriminierung des weiblichen Geschlechts alle Wörter mit „Frau“ neu schreiben um zukünftig Schriftzeichen ohne Diskriminierung zu haben. Das weitere Ziel ist es, dass eines Tages zuerst die Schriftzeichenexperten und schließlich die chinesische Regierung sowie die Institutionen die neuen vorurteilsfreien Schriftzeichen akzeptieren. Diese Performance ist der Anfang einer großen feministischen Aktion.

 

Die Künstlerin Xiao Lu, die 1989 durch die starke Wirkung ihrer Arbeit „Dialog“ auf der ersten chinesischen zeitgenössischen Kunstausstellung große Bekanntheit erlangt hat, provozierte damals nach dem Schießen auf ihre eigene Arbeit und der darauf erfolgten Verhaftung in der Folge weiterhin die patriarchalisch orientierte chinesische Gesellschaft auf ihre künstlerische Art und Weise: Ihre feministische Arbeiten „Sperma“(《精子》) und „Hochzeit“(《婚》) sind inzwischen Klassiker der chinesischen feministischen Gegenwartskunst geworden.

 

In der Arbeit „Sperma“ (2006) stellt Xiao Lu Liebe, Sex und die traditionelle Ehe in Frage. So sammelte sie in der Performance Spermien ganz anonym. D. h. Männer müssen nicht den Pflichten eines Vaters oder Ehemanns nachgehen, auch nicht einmal die Kinder mit aufziehen, sondern sie geben nur Sperma. Die Künstlerin will weder Emotionen noch körperlichen Austausch zwischen den Geschlechtern. Sie will lediglich durch künstliche Befruchtung ein Kind auf die Welt bringen. Diese Arbeit provoziert die etablierte männerdominierte Gesellschaftsstruktur.

 

Die Bedeutung und der Sinn des Werkes "Sperma" liegt darin, das herrschende Modell der traditionellen Ehe zu dekonstruieren. Denn Xiao Lu erkennt, dass das bisherige Familienbild eine Illusion ist, dessen Gültigkeit in Frage gestellt werden muss. Denn das „Autonome Ich“ der Frau ist durch die Unterwerfung unter das andere Geschlecht verloren gegangen.

 

Im Jahr 2009 – zum 20. Jahrestag der genannten Kunstausstellung – hat Xiao Lu eine Performance "Heirat" inszeniert: Es gibt nur die Braut und keinen Bräutigam auf der Hochzeit, nämlich nur sie selbst im Hochzeitskleid und an beiden Händen Eheringe tragend. Die Künstlerin nutzt den Modus einer traditionellen Hochzeit, um die Heirat als gesellschaftliche Konvention umzustürzen. Gleichzeitig will sie zeigen, wie eine Frau sich von verschiedenen Illusionen der traditionellen Beziehungen entfernt und über die „Selbstheirat“ das narzisstische Ego überwindet. Schließlich findet sie zum "Meta–Ich“ zurück.

 

Auch im 18. und 19. Jahrhundert in Europa bzw. in Deutschland wurden unverheiratete Frauen mit Kindern sozial verachtet und bestraft. Sie standen vor allem unter staatlicher Bevormundung. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Situation der Betroffenen durch Förderungspolitik verbessert. Heute leben „Single Moms“ in Deutschland im Allgemeinen selbstbestimmter.

 

Aber die alleinziehenden Mütter in China werden so diskriminiert wie in Deutschland vor etwa 100 Jahren – ein kultureller und politischer Timelag. „Bald Girls“ haben die Aufgabe, diese zeitliche und räumliche Differenz auszugleichen.

 

Juan Xu, Wiesbaden, 30. Januar 2014